Retro heute

10 Jahre Kultur-Recycling: eine Zwischenbilanz

 

   
   
 

Die Frage „was ist Retro“ war vor zehn Jahren neu. Sie heute beantworten zu wollen, ist daher einigermaßen retro. Um diese Frage zu aktualisieren, muss man sie umkehren: Was ist heute nicht retro? Mode, Möbel und Musik, Uhren und Frisuren, Autos, Elektronik- und Elektrogeräte, nicht zuletzt Wickie, Slime und Paiper haben unsere Konsumwelt mit Retro gesättigt. Wenn alles retro ist, gibt es retro eigentlich gar nicht mehr als unterscheidungstaugliche Kategorie. Tatsächlich wird heute beinahe alles modern Gewesene – ziemlich unterschiedslos – vielfältigen Wiederaufbereitungen zugeführt. Gerade das aktuelle Wuchern von Retro aber provoziert den Wunsch, sich darin orientieren zu können. Den Wunsch, der historischen Unterschiedslosigkeit der Revivals mit einer Verstärkung der Unterscheidungsfähigkeit zu begegnen. Reden wir also von Retro – wieder einmal, und auch von neuem.

So unterschiedslos wie die Übernahme vergangener Formen in die gegenwärtigen Gestaltungen ist mittlerweile auch der Gebrauch des Begriffs retro geworden. Heute spricht man bei jeder Art von Rückgriff von Retro. Am Beginn der Retro-Bewegung war das anders – damals war Retro ein vom Rest der Welt deutlich unterscheidbares neues Umgehen mit vorhandener Ästhetik. Wir können daraus schließen, dass Retro, obwohl es eine Bewegung der Selbst-Aufhebung von Geschichte ist, selber bereits eine Geschichte hat. Retro ist also auch nicht mehr das, was es einmal war. Wir können weiter schließen, dass Retro, obwohl es eine Bewegung der Vermischung stilistischer Differenzierungen zu einem Einheitsbrei ist, selbst Differenzierungen hervorgebracht hat und weiter hervorbringt.

Ich werde daher in den nächsten 20 Minuten versuchen, ein wenig Ordnung in den Wirbel der Zeiten und Stile zu bringen, werde aus der Geschichte des Ungeschichtlichen die Differenzierung der Zeit-Vermischungssehnsüchte rekonstruieren. Denn Retro ist nicht identisch mit Revival, mit Remix, mit Nostalgie, mit Fake, mit modischem Rückgriff und stilistischer Inspiration, ist nicht gleichzusetzen mit neuen Antiquitäten und antiquierten Neuigkeiten aller Art. Längst befinden wir uns im Time-Loop, in der Zeitschleife des Retro-Retro, des Retro zweiter Ordnung, vielleicht sogar in einer göttlichen Allgegenwart. Also lernen wir Geschichte und beginnen unsere Reise in die Gegenwart der Vergangenheiten hier und jetzt, im Handygedenkraum One Smart Space. Spacig ist schließlich eine Subkategorie des Retro-Futurismus, einer zentralen Spielart von Retro. Nicht wenige Handy-Modelle sind in diesem Stil designt und könnten ohne aufzufallen in einer Raumschiff-Orion-Serie anno 70 oder am spitzen Ohr des Dr. Spock erstmals zu sehen gewesen sein, wenn es damals schon Handys gegeben hätte.

Vor 37 Jahren wurde die erste Folge der Fernsehserie Raumpatrouille Orion ausgestrahlt. Sich heute daran zu erinnern bedeutet, ein Stück Zukunft aus der Vergangenheit gegenwärtig zu machen. Zeitsprünge und Zeitvermischungen dieser Art bilden den Kern des Retro-Futurismus. Raumschiff Orion ist für viele Menschen eine Kindheits-Erinnerung an jene Zeit, als Zukunftsbilder noch in richtigen Filmstudios aus Pappemache gebastelt wurden. Erinnerung an eine Zeit, in der es zwar noch keine Computer- Animationen gab, dafür aber jede Menge Glauben an die Zukunft. Wenn man heute gerne daran zurückdenkt, so geschieht dies nicht im Geist der Nostalgie, sondern im Geist von Retro im engeren Sinne, verstanden als spezifischen Erinnerungskult der Neunziger-Jahre.

Auch die vorangegangenen achtziger Jahre waren rückwärtsgewandt gewesen. Die Grünen wollten die Industriegeschichte rückabwickeln, ihre Gegenspieler, die Yuppies, die Sozialgeschichte. Sehnten sich die einen nach dem Garten Eden in Form einer ländlichen Biogemüseplantage, statteten sich die anderen mit vermeintlichen Zeichen des Erbadels um 1900 aus, nannten das „klassisch“ und nahmen dafür einen Sechzehn-Stunden-Arbeitstag in Kauf. Die Maßschuhe (mit Metallplättchen) mussten erst verdient werden, der Traum von „Wallstreet“ hatte seinen Preis. Laura Ashleys Blümchenmusterwelt gab der viktorianischen Frauenkeuschheit im Aidszeitalter ein neues Zuhause, und weil man die Uhren zurückdrehen wollte, wurde es beinahe zur Pflicht, nur noch antiquarische, teure Modelle aus Gold und Silber ans Handgelenk zu lassen. Diese stellten sicher, dass jeder gehetzte Blick nach der zeitlichen Gegenwart auf historisch Wertvollem zur Ruhe kam.

In den nostalgischen 80ern sehnte man sich zurück, ohne genau zu wissen, in welcher Zeit man ach so gern gelebt hätte. Das Gegenteil gilt für die Retro-Bewegung, denn diese will nicht ernsthaft zurück, sondern betrachtet die Vergangenheit ebenso wie die Gegenwart mit Ironie. Man hört den Soundtrack von „Schulmädchenreport Teil 3“ oder sieht sich gemeinsam mit Freunden „Ein Zombie hing am Glockenseil“ auf Video an, um daraus Stoff für stundenlange intellektuelle Debatten zu beziehen.

Das ironische, durchs Pasticcio von ernsthafter Nostalgie bereinigte Zitat war freilich schon in den achtziger Jahren als „Postmoderne“ aufgekommen. Doch die Postmoderne riss Elemente vergangener Kulturen aus dem Zusammenhang, um das Modell der linearen Geschichte zu widerlegen. Sie war damit dezidiert gegen die Moderne und deren Auffassung von Tabula-rasa-Innovation gerichtet. Als Anti-Moderne vergriff sie sich gerne provokant an wertvollen Elementen der Vormoderne. Griechische Säulchen standen hoch im Kurs.

Retro-Ironie hingegen speist sich nicht aus Kulturschätzen und freut sich nicht an deren Demontage. Vielmehr ist Retro ein Kult der Aufwertung des Wertlosen. Während sich der antimoderne Gestus der Postmoderne darin gefiel, Vormodernes einer erneuten Wertschätzung zuzuführen, ist Retro in eine flirthafte Liebesbeziehung mit den Exzessen des Modernismus verstrickt. Wenn Retro auch nostalgische Sehnsucht enthält, gilt diese nicht dem guten Alten, sondern jener Moderne zwischen 1950 und 1980, die im naiven Zukunftsrausch die schlimmsten Dinge hervorbringen und gut heißen konnte. Eiförmige Plastik-Sessel mit DDR-Flair und Woltron-Kugelradios, kurz zuvor noch der Müllkippe vorbehalten, werden nun teuer in Antiquitätenläden verkauft. Man hört wieder Abba, ohne sich zu genieren.

Retro ist nicht nur ein modischer Stil der Gestaltung, sondern auch ein Stil des Wahrnehmens, ein Stil des Interpretierens. Man gestaltet nicht nur neue Dinge ähnlich den alten, man sieht auch alte Dinge mit neuen Augen an. So hat die raumschiff-förmige Öl-Lampe mit ihren bunten, wabernden Wachsblasen wieder Einzug in die Wohnzimmer gehalten. Doch bei ihrer Wiederkehr ist diese Ikone der Siebzigerjahre nicht die gleiche geblieben. Damals war sie ernst gemeint, neu und Zukunft verheißend. Heute erscheint sie als retro, das heißt ironisch, unernst, schräg.

Der Retro-Enthusiast der 90er musste stets seine besondere Kompetenz beweisen, alten Plunder neu und anders wahrnehmen zu können, als seine Mitwelt das tat. Die Anhänger des Retro-Kults wetteiferten darin, Ungenießbares genießen zu können: Trash. Sie profilierten sich als Helden im Ertragen des beinahe Unerträglichen. Je hässlicher, desto schöner, lautete die Devise. Daneben gab es aber auch die Wiederentdeckung edler Leckerbissen.

Die Fähigkeit, Veraltetes mit neuen Ohren hören zu können, nennt man Recodierung. Das Musikstück bleibt objektiv dasselbe, doch subjektiv wird es ein anderes. Im neuen Kontext wandelt es seine Bedeutung. Es wird mit einem neuen Code entschlüsselt. Damit hat sich die künstlerische Innovation von der Produktion auf die Rezeption verschoben. Man braucht keine neuen Musikstücke mehr zu komponieren, man muss nur für die alten einen neuen Code erfinden, um heutzutage etwas Neues hören zu können.

Kaum ins nostalgie-fähige Alter gekommen, wurde die Generation der Dreißigjährigen von einer wahren Erinnerungswut gepackt. Die Wiederkehr der Glockenhose leitete für die Pop-Generation eine neue Ära der Rückbesinnung ein. Schließlich wollten auch jene Menschen, die ihre frühen Prägungen durch kitschige Foto-Tapeten, weiße Fellteppiche und billige Kung-Fu-Filme erfahren hatten, sich irgendwann an irgendetwas erinnern. Für ihre Erinnerung steht nur Industrielles, Künstliches, Mediales und Serielles zur Verfügung. Und weil mediale Ereignisse nicht altern, braucht man sie nicht zu erneuern, man muss ihnen nur eine neue Aufmerksamkeit schenken.

Unter den vielen Musikvarianten von Retro gibt es auf der einen Seite jene, die Vergangenes nur wiederholen oder neu präsentieren. Auf der anderen Seite jene, die Elemente der Vergangenheit in neue elektronische Formen bringen, einbetten oder adaptieren. Der DJ ist die Schlüsselfigur zum Verständnis der Retro-Kultur. Er ist an die Stelle des authentischen Künstlers und Urhebers getreten. Der DJ tritt auf als Kenner, Sammler und Gourmet entlegener Kulturgüter, er allein weiß, in welcher Situation welches Stück Vergangenheit zu vergegenwärtigen ist. Damit wird er zum Avantgardisten des Wiederholens und Erinnerns.

So, wie in der bildenden Kunst der Kurator wichtiger wurde als der Künstler, so ist der DJ an die Stelle des Komponisten getreten. Weil alle Archive voll sind mit Originalen, zählt die Selektion von Kunstwerken mehr als die Urheberschaft. Der DJ ist halb Archivar, halb Moderator. Er beansprucht die Kompetenz, die Gegenwart als eine besondere Mischung aus Bestehendem zu definieren.

Die Retro-Kultur der DJs ist gegen den Innovations- und Originalitäts-Kult der Moderne gesetzt. Denn der modernistische Gestus, stets etwas schockierend Neues erschaffen zu wollen, ist altmodisch geworden. Wer den Schock verkündet, löst damit nur noch Gähnen aus. In einer an Neuigkeiten übervollen Welt ist nur noch jene Verknappung von Interesse, die der DJ leisten kann, wenn er vor ein Stück Erinnerung so etwas wie einen Index setzt: Den Index des Hier und Jetzt.

Die spezielle Sorte einer Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart, die der Retro-DJ leistet, entspricht exakt der von Medienarchiven, Computern und Internet geprägten Situation. Die gleichzeitige Verfügbarkeit aller noch so entlegenen und vergangenen Kulturgüter macht den kundigen Archivar zum neuen Avantgardisten. In der Retro-Kultur haben jene die höchste Bedeutung, die sich noch auskennen, die den Überblick zu haben wenigstens vorgeben und die sich die Entscheidung anmaßen, zu sagen, was hier und jetzt wichtig ist.

Retro ist eine kulturelle Befindlichkeit, ein Zeitgeist im Sinne eines besonderen Verhältnisses des Geistes zum Phänomen Zeit. Mit der Parole „Retro brennt“ verkündete Spex, die Zeitschrift des Pop-Intellektualismus, 1996 den Höhepunkt der Aktualität. „Retro, das Jahrzehnt der Langeweile“ resümierte die Berliner Stadtzeitung „030“ am Ende die Neunziger. Beide hatten recht - bestand dieser Stil doch in seinem Kern darin, Langweiliges, Altbackenes und Abgeschmacktes, wie etwa Kaufhausmusik oder Plateauschuhe, als brennend aktuell und aufregend zu empfinden. Dieser Triumph des Willens über den schlechten Geschmack fällt nicht immer leicht. Er ist – so könnte man sagen – eine Kunst.

Ist es mit dieser Kunst nun vorbei? Der Retro-Stil steht so sehr in modischer Blüte, dass man gut beraten ist, ihn für längst tot zu erklären. Diese Taktik gehört freilich zum modischen Spiel. Selbst der Hippie-Look war in den Neunzigern zurückgekehrt und überlebte im Mainstream den Jahrtausendwechsel. Danach verschob sich der Akzent zu den Achtzigern: Nike präsentierte deren Leit-Farbe Gold. Prada und Gucci ebenso wie die Zeitschrift „Wallpaper“ steigerten die Spießigkeit fiktiver Yuppie-Lebenswelten bis zur ironischen Brechung. Ob diese Wende vom Trashigen zum Hyperkonservativen noch als retro zu bezeichnen ist, darüber lässt sich streiten. Retro ist tot. Es lebe Retro!

Da nun auch der zweite Auftritt der achtziger Jahre wohl bald genügend abgefeiert ist und die Wiederkehr der Neunziger ausgerufen wurde, ergibt sich ein Problem: Kann das Jahrzehnt des kulturellen Recyclings der modischen Wiederaufbereitungsanlage selbst nochmals eingespeist werden? Ist es, sobald die Katze sich in den Schwanz beißt, mit Retro vorbei? Wird Neues bald unvermeidlich, oder haben wir mit Retro-Retro, dann mit retro-retro-retro und so weiter bis zum erlösenden Weltenende zu rechnen?

Vielleicht ist Retro ja unsterblich. Kann denn, so müssen wir heute fragen, das Prinzip der Reanimation, nachdem es zu einer Kosten sparenden Säule der Unterhaltungsindustrie geworden ist, jemals wieder verschwinden? Falls die neunziger Jahre nie wieder aufhören, werden alle künftigen Produkte der Popkultur aus Leichenteilen vormals revolutionärer Jugendkulte zusammenmontiert und bloß neu überschminkt werden. „Ein schicker, neuer Retro-Club“, sagt (Retro-Star) John Travolta im (Retro-Meisterwerk) Pulp Fiction, „kommt mir vor wie ein Wachsfigurenkabinett mit Pulsschlag.“ Wer diesen Pulsschlag fühlen kann, ist zum rückwärtsgewandten Trendscout der Zukunft prädestiniert. Vielleicht war ja der bisherige Retro-Hype nur die berauschende Einstandsfeier eines neuen Dauerzustands. Retro wäre dann der Name jener Umlaufpumpe, die den Puls der zum Stillstand gekommenen historischen Zeit rhythmisch in Gang hält; das Turbo-Herz der postmodernen Kulturindustrie und ihrer Warenzirkulation.

Diedrich Diedrichsen geißelte (im Spex) diejenige „Hipness, die Easy-Listening-Retros hervorbringt“ linker Hand als „rein formale Wiederholung einer Struktur, ein sinnentleertes Schauspiel, das ein immer größeres Archiv (eine an sich ganz besonders feine Sache!) in nächster Zeit immer häufiger und immer leerer neu hervorbringen wird, so wie sich ein voller Darm auch dann noch gelegentlich entleert, wenn die anderen Körperfunktionen erloschen sind (jedenfalls bei der dem Konsumisten unserer Tage ja eh besonders ähnlichen Seegurke). Diese Hipness reißt keine Mauern ein, sondern verschafft nur den klassenspezifischen Ausdifferenzierungen in bestimmten Lebensphasen leicht begehbare Trampelpfade.“

Doch halt: gab es denn Rückkehr, Rückgriff und Zitat nicht immer schon? Schon Renaissance, Romantik und Historismus waren in ihren je verschiedenen Weisen von Rückwärtsgewandtheit höchst innovativ. Die Mode schließlich ist ein Formenspiel, das nicht anders kann, als sich selbst zu zitieren, zu rekombinieren und als neu auszugeben. Jede lebendige Kultur, so könnte man dem gesellschaftskritischen Dekadenzbefund entgegenhalten, hat ihr Zentrum im kollektiven Gedächtnis ihrer selbst. Und dieses Gedächtnis ist nicht als totes Archiv zu denken, sondern als stets neu zu leistende Aktualisierung, Umdeutung, Aneignung. Kultur und Geschichte sind kein Besitz, den man im Rücken hat, wenn man sich der Innovation zuwendet; sie sind vielmehr die Praxis, alte Stoffe neu zu verarbeiten und so am Leben zu erhalten. Modern und reflexiv kann eine Kultur nur sein im Bezug auf das, was sie war. Und ihren Innovationen wird nur in dem Maße Komplexität innewohnen, wie der historische Kontext dicht gewebt ist, von dem diese sich abheben. So besehen wäre Retro nicht die neueste Version vom Untergang der Kultur, gar deren Auslieferung an die gefräßige Seegurke des Konsumismus, vielmehr ihr überzeitliches Betriebsgeheimnis. Ein neuer Name bloß für die gesteigerte Kompetenz zur reflexiven Aktualisierung von Kulturgütern.

Doch bevor Retro sich nun in die Allgemeinheit des retrospektiven Charakters moderner Kulturen auflöst oder im Gegenteil, in die Nichtigkeit einer sich leer durchdrehenden Kulturbetriebsmaschine, ist die Besonderheit dieses Erinnerungkults in den Blick zu bringen. Jede Zeit speist sich aus ihren Vergangenheiten, doch jede tut es auf andere Weise. Das Wie des Revivals und der Reminiszenz unterliegt ebenso einem historischen Wandel, wie das jeweils Erinnerte. Daher sollte der Begriff Retro, der so oft wahllos für alle möglichen Phänomene der Wiederkehr verwendet wird, der Benennung des spezifischen Wiederholungskults der neunziger Jahre, dem trashigen Retrofuturismus, vorbehalten bleiben.

Die digitale Technik ermöglicht viele verschiedene Umgangsweisen mit der Vergangenheit. Mal wird diese nachgebessert, mal wird sie rekonstruiert, restauriert, adaptiert, zitiert oder integriert, dann wird sie wieder verwandelt, vermischt, konzentriert oder verwässert. Daneben kommt es vor, dass die Vergangenheit einfach fortlebt. Dann kann man sich aber noch immer entscheiden, in welcher Haltung man sie rezipiert: anbetend, verhöhnend oder kontemplativ.

„Remix, Remake, Remodel“ lautet ein Song-Titel von Roxy Musik – er antizipierte das Programm der Retro-Kultur. Die vom Computer ermöglichten Aneignungen und Vermischungen haben nicht nur die musikalische, sondern auch die visuelle Kultur geprägt. In der Mode waren es vor allem Prada und Gucci, die den Neunzigerjahren immer wieder den Retro-Stempel aufdrückten. Sie imitierten alte, billige Plastiksandalen in teurem Leder, erklärten popige Tapetenmuster für wunderschön und machten bunte Plastikhemden zu Kostbarkeiten. Selbst Hippie-Muster erleben ein Revival. Man trägt sie freilich nur als Muster, ohne Bedeutung und Ideologie.

Niemand mehr will die Zeit zurückdrehen, wenn er zu einem Accessoire der Vergangenheit greift. Im digitalen Display der Gegenwart erblickt man Altes auf neue Art. Im Zeitalter des Zapping und Surfing wurde Retro zur Antwort auf die gleichzeitige Präsenz aller Zeiten und Kulturen. Ein Stil für das Leben im totalen Archiv.