Habe die Ehre - Hallo, Tschüs!

Wiener Ober und Berliner Kellner sind Musterexemplare von Genies

 

   
   
 

In Berlin ebenso wie in Wien wird man in Restaurants entweder gut bedient – oder schlecht. Die Art und Weise einer guten oder schlechten Bedienung jedoch könnte in den beiden Hauptstädten verschiedener nicht sein. Zumindest in der Kultur der Gastronomie sind Norden und Süden gegensätzlicher als Ost und West. Berliner Kellner scheinen mit dem Dienen ein Problem zu haben. Mittels Patzigkeit demonstrieren sie dem Gast ihre Distanz zu der untergeordneten Rolle ihres Berufs. Damit man sie auch ja als Mensch wahrnimmt, stören sie im negativen Fall mit irgendeiner Komplikation den Bestellvorgang, während sie im positiven Fall mit Demonstrationen intimer Entspanntheit den Gast für sich gewinnen wollen. Die optimalen Berliner Kellner beeindrucken durch übermäßige Freundlichkeit, um ein Privatverhältnis zu suggerieren. Auch das kann ziemlich auf die Nerven gehen. Sie können keinen Teller auf den Tisch stellen, ohne dabei einen Zusatz an Individualität und Subjekthaftigkeit in Szene zu setzen.

Verlangt man von den Berlinern einen Salzstreuer, sagen sie nicht etwa „bitte gleich“ und bringen ihn - vielmehr beginnen sie einen dramatischen Rechtfertigungsdiskurs über die guten Gründe, deretwegen sie noch kein Salz auf den Tisch gestellt hätten: letztendlich stets subjektphilosophisch hinterlegte Gründe aus Freiheit und Vernunft. Ohne, daß dabei der sprichwörtliche deutsche Fleiß auch nur den geringsten Schaden nähme, moniert der idealtypische Berliner Kellner in seinem Habitus, stolzer Besitzer seelischer Regungen und Empfindungen zu sein. Alle Verkomplizierungen seiner Arbeit dienen einem einzigen Zweck: Dem Gast zu suggerieren, er sei jenseits seines „Brotberufs“ ein verkanntes Genie.

Dieser Darstellungszwang eines Subjektüberschusses hat eine reichhaltige Kulturgeschichte. Zu dieser gehört etwa Kants Maxime, den Mitmenschen niemals bloß als Objekt, sondern stets auch als Subjekt zu behandeln. Aus diesem Gebot wird in Deutschland oft irrtümlich der Umkehrschluß gezogen, man selber dürfe niemals die Objektposition einnehmen, selbst dort nicht, wo diese für einen selbst wünschenswert (wie beim Sex) oder zuträglich (wie beim Bedienen) ist.

Eine andere Wurzel des saloppen Kellnerverhaltens liegt in der ikonoklastischen Bevorzugung des „wahren“ Inneren gegenüber dem „scheinhaften“ Äußeren, wie sie der Protestantismus immer schon verlangte. Daß ein Kellner für den Gast nur äußerlich in Erscheinung tritt, verletzt die Offenlegungsmoral und provoziert kompensatorische Darstellungen eines Innenlebens. Verstärkt wurde diese Tendenz durch das seit dem verlorenen Zweiten Weltkrieg geltenden Tabu, als Deutscher seine Subjektivität lustvoll dahinzugeben, wie der Volkstumswahn dies forderte und gestattete.

Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang auch das Selbstbefreiungspathos von ´68, das bis heute nachwirkt, indem es Menschen dazu motiviert, ihr Angeschlossensein an Industrieproduktion und Konsumgesellschaft mithilfe von Konsumgütern, die eine Verweigerung demgegenüber signalisieren, zu verkleiden. Das Nachkriegs-Gebot der Selbstverwirklichung gestattet es deutschen Menschen nicht, sich mit einer dienenden Rolle zu identifizieren. Die Tabuisierung jedweder „Fremdverwirklichung“ hemmt Deutschlands Weg in die postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft.

Vor diesem Hintergrund wuchern die stereotypen Rituale der Präsentation von Innerlichkeit im Äußeren, von Freiheit durch Regelverletzung und von Verweigerung der Funktionsidentität. Im Rahmen der deutschen Kultur gilt das Subjektsein als eine vom Verlust bedrohte Eigenschaft, die zu besitzen permanent durch die zumindest teilweise Durchbrechung der situativen Verhaltensregeln aufs neue erwiesen werden muß. Äußeren Vorgaben zu folgen, anstatt sich selbst als Ursprung der eigenen Handlungen zu stilisieren, verletzt die oberste deutsche Moralvorschrift, stets ein Subjekt zu sein, die Lust am Objektsein nicht zuzulassen und jede Selbstvergessenheit zu meiden.

Der Wiener Kellner - zumindest der idealtypische traditionelle „Ober“ - hat scheinbar weniger Probleme mit dem Dienen. Er ist servil, höflich bis zur Übertreibung, und geht in seiner devoten Rolle auf. Kellner ist er durch und durch und will es offenbar auch sein. Seine Identität ist die Berufsidentität und nicht eine mittels deren Störung monierte Freizeit- und Selbstverwirklichungsidentität. Während sein deutscher Kollege nur mit Mühe von den Gästen unterscheidbar ist, weil er in einem T-Shirt auftritt, von dessen Aufdruck wir sein politisches Bekenntnis oder seine Lieblingspopgruppe zur Kenntnis nehmen müssen, ob wir wollen oder nicht, figuriert der Wiener Kellner im schwarzen Smoking, mit weißer Schürze oder in sonstiger Uniform. Habe die Ehre, grüß Gott der Herr, bitte sehr, bitte gleich, wünschen zu speisen, was darf es sein? Katholizismus und obrigkeitlicher Beamtenstaat haben in der österreichischen Kultur tiefe Spuren hinterlassen. Sich passiv dem Schicksal einer dienenden Berufsrolle hinzugeben, ist in Wien gar nicht politisch obszön. Es ist selbstverständlich.

Das heißt nun nicht, daß man in Wien als Gast stets gut bedient wird, im Gegenteil. Zur Figur des Wiener Obers gehört auch die „Grantigkeit“, eine grundsätzlich mißmutige und resignative Grundhaltung. Doch auch wenn der Herr Ober noch so renitent die Bedienung verweigert, wird er dabei niemals die Regeln der Höflichkeit verletzen. Nur innerhalb dieser Regeln ist er zu kleinen Gemeinheiten fähig. Ja selbst seine oft zur Schau gestellte üble Laune ist ein höflicher Akt gegenüber dem nicht weniger melancholischen Wiener Gast: Indem der Kellner stets noch grantiger ist, als seine Gäste, schenkt er ihnen im Kontrast ein wenig Frohsinn am Vormittag.

Dabei inszeniert sich das Gegenteil der amerikanischen „Erlebnis-Gastronomie“, deren aufdringliche Fröhlichkeit einem auch die beste ins Lokal mitgebrachte Laune mittels Überbietung verderben kann. Denn wer kann schon mithalten mit dem Zahnpastalächeln einer amerikanischen Servierkraft? Es mahnt einen, doch gefälligst einzustimmen in die Siegerstimmung der überschießenden Effizienz. Man muß dieses Lächeln erwidern, muß einstimmen in die solidarische Lächlergemeinschaft aller Leistungswilligen dieser Welt. Beim Frühstück ist eine solche Zumutung nicht immer annehmbar.

Wollte man den internationalen Kellnervergleich noch weiter treiben, so könnte man dem italienischen Kellner die Rolle des sich selbst inszenierenden Opernbühnenstars attestieren, während sein Schweizer Kollege demonstrativ flink ist, um dem Gast damit zu signalisieren, daß dieser das Lokal so rasch wie möglich wieder verlassen solle: seine Effizienz ist eine kaum verdeckte Form von Rausschmiß. Aber bleiben wir beim Wiener Ober mit seinem Smoking und seinen Ritualen: Der Ästhetik seiner konventionellen Erscheinung korrespondiert die seines rituellen Vollzugs. Wen wundert es jetzt noch, daß in Wien nicht der Schöpfer neuer Werke, sondern der vollziehende Musiker als Inbegriff eines Künstlers gilt? Eingegliedert ins Orchester, uniformiert und im Gleichtakt bewegt, der Vorschrift der Noten folgend, fremdem Ausdruckswillen dienend und unter den Taktstock gebeugt, entspringt ihm Einzigartiges, nicht trotz, sondern wegen seiner Hingabe an die Dressurinstitution der abendländischen Musik. Erst wenn er ganz zum Diener geworden ist, ragt der Musiker übers Dienen hinaus - dies ist ganz allgemein sein Schicksal, das bloß in Wien mehr geschätzt und verstanden wird, als anderswo.

Der Wiener Kellner ist genial nach dem Vorbild des Musikers: Künstler und Diener zugleich, und Künstler, weil dienend über´s Dienen hinaus. Er beherrscht sein Handwerk so schlafwandlerisch perfekt, daß es sich ihm unter der Hand in einen Tanz verwandelt. Während der Berliner Kellner in seinem Gang oft Widerwillen gegen die Arbeit anzeigt (womit er sich um jede Lustmöglichkeit bringt), ergeht sich sein Wiener Kollege in überschüssigen Gebärden, Verneigungen und Tänzelschritten. Bitte sehr, bitte gleich, tönt er fast singend durchs Lokal und wirbelt das Tablett noch einmal gekonnt durch die Luft, bevor er es knapp über dem Tisch abfängt, um sodann in übersteigerter Behutsamkeit die Tasse aufs Marmortischchen zu plazieren. Er weiß offenbar, daß ihm sein Tagwerk leichter von der Hand gehen wird, wenn er es beschwingt und musikalisch-spielerisch verrichtet; daß ein lustvoller Überschuß an Bewegungen weniger ermüdet, als deren Minimierung in einer gesträubten Haltung. Der Wiener Kellner praktiziert ein Wellenreiten auf der Pflicht. Er forciert sein Ritual, bis er es souverän beherrscht. In Wien bezieht man seine Souveränität nicht aus der Versperrung gegen rituelle Gleichförmigkeit, sondern aus deren genüßlicher Überbetonung. Die lokale Kulturtechnik der Subjekterzeugung funktioniert nach dem Muster der Ballette, Bälle und Orchester.

Man unterläge daher einem Irrtum, würde man nun aus deutscher Perspektive dem Wiener Bediener Fremdbestimmtheit, Subjektverlust, Identitätslosigkeit und Maschinenhaftigkeit diagnostizieren. Auch in Wien ist das Subjekt sowohl ein unabstreifbar zugrundeliegendes wie auch ein historisch und kulturell in je spezifischer Form produziertes. Die von Foucault so trefflich geschilderte abendländische Subjektemacherei hat keine geographischen Lücken, sondern bloß ihre regionalen Verschiedenheiten. Der typische Wiener Ober gilt nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Funktionsidentität als „Original“. Diese Erscheinungsform von Subjekthaftigkeit gewinnt er jedoch nicht aus einem Vorbehalt gegenüber seiner Integration in die dienende Rolle, sondern im Gegenteil aus dem, was ungewollt diese Rolle überragt. Die unbeabsichtigte Inkongruenz mit der Funktion erschafft dabei ein deutlicheres Bild von Individualität, als die Bemühung der Deutschen, sich erst gar nicht auf ihre Rolle einzulassen. Während die deutsche Individualität aus einer Handlungsfigur des distanzierenden Zögerns vor der Rollenidentität gewonnen wird, stolpert der Wiener Kellner gleichsam über sein Ziel hinaus und gewinnt seine Originalität als Überschuß danach. Seine den Durchgang durch eine Nichtindividualität überstanden habende Individualität tritt im Endeffekt stärker konturiert in Erscheinung, als die gewollte deutsche Originalität. Denn den Berliner Kellner ereilt das Problem, daß die von ihm eingesetzten Zeichen der Unkonventionalität, Besonderheit und Selbstverwirklichung - wie alle Zeichen! - nicht anders als konventionell, allgemeingültig und vom lokalen Brauch vorgeschrieben sein können. Während umgekehrt die Individualität des Wiener Kellners, gerade weil sie nicht intendiert ist, als Abweichung authentisch in Erscheinung tritt. Der Herr Ober ist wider Willen zum Original gestempelt.

Von diesem Element des Ungewollten im österreichischen Dispositiv der Subjektkonstitution möge man sich nun aber nicht täuschen lassen: Da der deutsche Vorbehalt gegenüber der Rolle und ihr österreichisches Verfehlen denselben Effekt der Konturierung von Individualität zeitigen, können sie als unterschiedliche Strategien zum selben Ziel angesehen werden, sofern man unter Strategie auch eine unbewußte Absicht begreift. Der Wiener scheint darauf zu vertrauen, ohnehin immer schon ein Individuum zu sein. Ein Individuum schon als fertiges Produkt, und nicht als einer, der Individualität erst produzieren müßte. Und damit hat er recht, weil ja schon jedes Laubblatt einzigartig ist, ohne dies erst mühsam kundgeben zu müssen. Die Bezeugung von Individualität ist daher nicht nur überflüssig, sondern für deren Sichtbarwerden sogar störend.

Paradoxerweise schwindet Individualität, sobald man versucht, sie hervorzustreichen. Umgekehrt tritt sie umso deutlicher in Erscheinung, je weniger man sich um sie bemüht. Warum das so ist, zeigt sich an der wienerischen Präferenz für die Uniformierung. Um die Kellnertracht zu verstehen, muß man sich in einem Wiener Ballsaal umsehen. Wo alle Männer den einheitlichen schwarzen Smoking tragen, treten die individuellen Besonderheiten umso schärfer hervor. Nirgendwo hat das Gesicht mehr Bedeutung. Die Wahrnehmungsökonomie lenkt alle Aufmerksamkeit aufs Filigran, die Schwelle des Bemerkbaren verschiebt sich vom Derben zum Feinen. Uniformität vergröbert nicht die Wahrnehmung, sondern verfeinert sie für Phänomene der Abweichung, der Differenz und des Überschusses. Da Individualität aus der Abweichung von einer Identität geschöpft wird, torpediert die Inflationierung von Zeichen der Abweichung den gewünschten Effekt, während umgekehrt die mittels Uniformität erzielte Verknappung der Abweichungen deren konturierende Wirkung verstärkt. Deshalb verblaßt die Individualität der legeren deutschen Selbstverwirklicher in ihrer Massierung und Ritualisierung, während sie im wienerischen Rahmen von Förmlichkeit und Regelbefolgung aus dem schwarzen Smoking hervorblitzt.

Die deutsche Befreitheitskultur, der kollektive Individualismus, erzeugt mit seiner angestrengten Zurückweisung alles Regelhaften und Förmlichen ein chaotisches Einerlei, in dessen zum Programm erhobenem Abweichlertum keine Abweichung mehr eine Chance hat, Individualität zur Erscheinung zu bringen. Die Verberlinerung der gesamteuropäischen Alltagskultur - im Sinne jenes Verlusts an Individualität, der aus deren massenhafter Betonung resultiert - stößt in Wien immer noch auf die hartnäckigen Widerstände einer traditionell südeuropäisch-katholisch geprägten Konstruktion von Subjektivität. Doch der zunehmende Erfolg des Berliner Modells fügt sich nahtlos in die generelle Tendenz des Zivilisationsprozesses, äußere Normen zu verinnerlichen. Der Wiener Kellner mit seinem schwarzen Mascherl ist außen angepaßt und bleibt deshalb innen unangetastet. Sein Berliner Kollege trägt den Frack der Selbstbemeisterung innen, und hüllt sich außen in Zeichen der Ungezähmtheit. Statt „g´scham´ster Diener“ sagt er uns: „Ich bin so frei!“