Kaltes Licht

Frost-Faszination und Coolness sind Agenten der Moderne

 

   
   
 

Ist das Natürliche warm, das Künstliche kalt? Selbstverständlich! – würden die meisten Zeitgenossen antworten, wenn man sie auf der Straße dazu befragte. Im Hochsommer hätten sie sogar ein wenig Empirie auf ihrer Seite.

Fühlte sich die gute alte Zeit, wann immer die war, wärmer an als die moderne Gegenwart? Aber ja! – so lautet unsere fixe Idee, die von keiner Zentralheizung widerlegt werden kann.

Will der Mensch natürlicherweise lieber „warmes“ oder „kaltes“ Licht? Warmes! – tönt erneut der Chor spontaner Antworten. Der historische Weg vom Höhlenfeuer zum Halogen kann demnach nur vom Teufel gewiesen worden sein...

So beliebt derlei alltagskulturelle Sprachspiele sind, stehen sie doch im schärfsten Gegensatz zur Realität: Durchgesetzt hat sich seit hundert Jahren die Moderne, bei ihrem zweiten Anlauf während der letzten 15 Jahre ist sie zudem nicht nur in die Köpfe, sondern auch in die Herzen eingedrungen. Im Rückblick auf die Universalgeschichte der Licht-Erkaltung von der Talg-Funzel bis zum Deckenfluter können wir nur von einem Siegeszug des Frostigen im Medium der Beleuchtung sprechen. Die Entwicklung der Technik hat diese Tendenz zwar ermöglicht, aber nicht hervorgerufen. Noch nie hat eine Technik Erfolg gehabt, die nicht Antwort auf eine tiefe, öfter noch eine „untiefe“ Menschheits-Sehnsucht war. Sehnsüchte aber haben jeweils so ihre Geschichte, haben lange Kontinuitäten und obendrein noch modische Zuspitzungen: Im aktuellen IKEA-Sortiment findet sich eine Leuchte, die exakt wie ein überdimensionierter Eiswürfel aussieht. Sie bringt die Sehnsucht nach der metaphorischen Kombination von Kälte und Licht auf den Punkt.

Fehlt hier die Cocktail-Kirsche? Die Eiswürfel-Leuchte ist mehr als ein Pop-Nippes, das als kostengünstiger Nachfahre der „Hausbar“ den coolen Drink des nächtlichen Club-Lebens herbeizitiert, den für sich selbst zu mixen häuslich gewordene Ikeawohner abends heimgekehrt zu müde sind. Der scheinkalte Würfel ist eine verdichtete Ikone der modernistischen Wohnidee schlechthin, wenn auch von den utopischen Höhen des White Cube heruntergeschlittert in die Niederungen der Dekoration. Eine heimelige Persiflage auf die Moderne mit ihrer Licht-Glas-Geometrie-Obsession? Oder ein triviales Beweisstück dafür, dass die libidinös heiße Phase der „kühlen Moderne“ noch lange nicht erkaltet ist?

Klar widerstrebt der trübe Kubus den Prinzipien der Moderne: auch wenn er nicht verziert ist, ist seine Form doch zierlicher Zusatz. Noch schlimmer: Mimesis, wenn auch nicht Nachahmung der Natur, sondern dessen, womit Fastfoodketten die Hälfte der Getränkebecher füllen. Eher amerikanisch-modern als Bauhaus-modern, und doch: um die Sehnsucht nach jener Kältemetapher zu begreifen, von der die Moderne langfristig angetrieben wird, ist das (Un-)Ding geeignet: nehmen wir es als Symptom. Derlei „Moderne light“ will nicht kühl-sachlich, sondern eine coole Sache sein. Damit ist sie näher dem Begehren nach Modernismus, als dessen Rationalisierung. Ein Ornament für Leute, die gern das Wort „cool“ im Munde führen.

Die Sehnsucht nach immer hellerem Licht entbrannte am Beginn der Moderne aus dem Impuls der Abstoßung von der lichtfeindlichen, von zahlreichen Vorhängen und Textilien überladenen Wohnidylle des 19. Jahrhunderts, für die Walter Benjamin einst das unübertreffliche Bild des „Futterals“ geprägt hat. Die Licht-Utopien der frühmodernen Glas-Architekten um Bruno Taut waren „gegen den bürgerlichen Spießer gerichtet, der, hinter festem Mauerwerk sitzend, es sich gemütlich gemacht hatte“ – die Helligkeit sollte künftig verhindern, in „Stumpfsinn und Gewohnheit zu verfallen“, schrieb Jörg Kohlmayr in seiner Geschichte der Glasarchitektur.

Die Zukunft sollte heller sein als die Vergangenheit – davon waren nicht erst die Pioniere der Moderne überzeugt, denen Kerzenlicht nicht mehr als seelenwarme Idylle, sondern als biedermeierlicher Mief erschien, gegen den der kalte Lichtstrahl „wie ein Peitschenhieb“ (so der Bauhaus-Theoretiker Adolf Behne) zu einem neuen Bewusstsein erwecken sollte. Schon Hegel freilich hatte den Weg vom „finsteren“ Mittelalter bis zur Französischen Revolution als kontinuierlichen Sieg des Lichts und des Geistes mit dem Bild der Morgenröte belegt. Die Erhellungs-Sehnsucht der Modernisten ist ein Kind der Aufklärungs-Sehnsucht – sie hebt die alte Lichtmetapher bloß auf den Stand der Technik – von der Morgenröte zum Halogen, von Eos zu Neon.

Was die Physiker „Licht-Temperatur“ nennen, ist eine Metapher. Das Auge nimmt keine Temperaturen im physikalischen Sinne wahr, doch das Gehirn benötigt Gleichnisse, um Wahrnehmungen ordnen zu können. Die Zuordnung rötlichen Lichts zu Wärmeempfindungen und bläulichen zur Kälteempfindung ist ein kultureller Kode, der so tief etabliert ist, dass wir uns gewaltsam daran erinnern müssen, dass er beliebig ist. Die physikalischen Begründungen für die Zuordnung rötlich-warm spielen in der Alltagswahrnehmung von Licht keine Rolle. Niemand wärmt seine Haut an einem roten Lampenschirm, wohl aber die Seele an der „Atmosphäre“ einer Bar. Wir könnten bläuliches Licht auch „spitz“, rötliches „rund“ nennen. Oder umgekehrt, bitte sehr. Unsere unmittelbarsten Empfindungen sind vermittelt durch kulturelle Zuordnungen, durch Metaphern, die in Jahrhunderten gewachsen sind.

Mit der elektrischen Beleuchtung wurde eine andere Helle möglich, als die Taghelle der Sonne. „Nachthelle“ könnte man die Phantasie nenne, der Sternenhimmel könnte plötzlich seine Lichtstärke hochfahren, als ob Gott an einem Dimmer drehte: Dann hätten wir natürliches kaltes Licht. Die Modernisierungs-Geschichte der elektrischen Beleuchtung stößt sich ab vom „warmen Feuer“ und tendiert zum kalten, zum immer kälteren Kunstlicht. Diesem sind aus der Kulturgeschichte Bedeutungen zugewachsen, die es so rasch nicht los wird: Wachheit, Geistigkeit, Aufgeklärtheit, Offenheit, Fleiß, Demokratie, Klarheit, Sauberkeit, Mobilität – selbst die Autoscheinwerfer können heute nicht anders, als mit diesen Tugenden uns voranzuleuchten und immer bläulicher zu leuchten.

Gerade weil historisch das „warme“ Licht der dörflichen Herkunft, das „kalte“ Licht der Urbanität und Innovation zugeordnet wird, begehren wir in den Übersteigerungen der Erhellung die Freiheit, den Möglichkeitsraum. Eisige Helle ist ein starkes Zeichen der Erlösung von allen ungewollten Verstrickungen in Zwielichtiges. Sie schenkt uns jene Distanz, in der wir selbst als Handelnde in lichte Erscheinung treten. Kaltes Licht schiebt Nähe auf, um das urbane Versprechen zu geben, Nähe selbst wählen und dosieren zu können. Wir kennen das von jeder Party: die „gemütlich schummrigen“ Räume bleiben lange leer, im kalten Neon der Küche beginnt man einander näher zu kommen.