Das ist (k)eine Zigarre

Der Zigarren-Kalender 2005 der Photographin
Andrea Diglas

 

   
   
 



Wer sagt, jemand habe eine „eindeutige“ Bemerkung fallen lassen, meint damit traditionell Erotisches. Wer sagt, jemand habe eine „zweideutige“ Bemerkung fallen lassen, meint damit ebenfalls Erotisches. Beide Redeweise stammen aus einer Zeit, in der man noch an die Möglichkeit eindeutiger Zeichen glaubte, weil die symbolische Ordnung stabil genug schien, um schon in der Zweideutigkeit einen halb verdeckten, halb offenen Skandal gegenüber der Pflicht zu eindeutigem Zeichengebrauch zu wittern.



Heute kann man froh sein, wenn etwas bloß mehrdeutig ist, denn Vieldeutigkeit ist die Regel. Die Bedeutungen wohnen nicht mehr in den Zeichen, sie sind in die vorbeihuschenden Codes und Kontexte ausgewandert. In diesem beinahe regellosen Zustand der frei zirkulierenden Bedeutungen ist man froh, wenn man ein Zeichen zu fassen bekommt, das nur doppeldeutig und in diesem Sinne eindeutig ist. Ein derart stabiles, in seiner eindeutigen Zweideutigkeit gut abgesichertes Zeichen ist in der Zigarre zu erblicken.



Dass die Zigarre ein Phallus-Symbol ist, weiß heute jedes Kind. Nur wenige Erwachsene hingegen wissen, was ein Phallus-Symbol ist, und beantworten die Frage danach mit dem schlichten Hinweis: „Eine Zigarre!“ Sie meinen damit, dass eine Zigarre als Symbol für das männliche Gemächt steht.



Sie wissen nicht, dass die moderne Psychoanalyse das genaue Gegenteil behauptet: Phallus ist in deren Terminologie nicht ein anderes Wort für Penis, sondern eine Abstraktion für das wohlige Gefühl, dass einem nichts fehlt, dass man vollständig und ganz ist. In diesem Sinne kann nicht nur ein Mann, sondern auch eine Frau sich als phallisch empfinden oder von anderen so empfunden werden.



Eine Frau handelt phallisch, wenn sie als Objekt glanzvoll hervortritt, als ob ihr nichts fehlte. Ein männlicher Penis kann, je nach Situation, viele verschiedene subjektive Bedeutungen haben, eine dieser möglichen Bedeutungen ist die des Phallus im eben erwähnten abstrakten Sinne eines mangelfreien Moments.



Psychologisch korrekt formuliert, wird der phallisch erscheinende Penis sonach als eine Art von Zigarre, nämlich als ein ergänzendes und ganz machendes Objekt interpretiert. Als ein Objekt, das man sich aneignen kann in der Perspektive, den Mangel des Daseins zu beheben, mit sich eins zu werden, sich heil und vollständig zu fühlen.



Phallus-Symbole gibt es seit Jahrtausenden, doch jede Zeit interpretiert sie neu. Im antiken Griechenland haben Frauen einen großen roten Leder-Phallus singend durchs Dorf getragen. Freilich nur zu festlichen Anlässen.



Heute geht es um die weibliche Aneignung eines traditionell männlichen Symbols und die Entfaltung komplexer Umgangsweisen mit diesem. Die Lust an Macht und Bemächtigung ebenso wie die Lust an der Hingabe oder dem stolzen Besitzen, das Verströmen oder Vereinen oder sich als Objekt distanzieren – all diese Gesten und Verhältnisse zu gestalten liegt heute in der Hand der Frau ebenso wie in der des Mannes. Was nützt den Frauen die Aneignung der Macht ohne die Aneignung der Lust? In der Hand der Frau kann heute auch eine Zigarre liegen, und mit ihr alles, was daran ein-, mehr- oder unendlich vieldeutig ist.

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